Ein neuerliches Studium kürzlich erschienener Dissertationen zu Herman Bavinck (1854-1921) lässt mich zum wiederholten Mal in die grundsätzliche Frage eintauchen, wie Rechtgläubigkeit und Aktualität des 21. Jahrhunderts einander begegnen können, ohne dass letzteres Ersteres beschnitten und verstümmelt oder ein Rückzug ins Private unumgänglich wird. Diese Grundfrage steht auch über meiner eigenen Biografie.
In einer frühen Vorlesung Bavincks über das Prinzip der Katholizität der christlichen Kirche (1888; ausführlich zusammengefasst hier) gesteht Bavinck ein, «dass wir – vielleicht noch stärker, als wir es uns denken – von der modernen Weltsicht beeinflusst sind. Das irdische Leben wird nicht mehr primär als Vorbereitung auf den Himmel betrachtet, sondern besitzt eigenen, unabhängigen Wert. Eine starke Beschäftigung mit materiellen Sorgen ist die Folge hiervon. Wir suchen das Leben hier so angenehm wie möglich zu gestalten.»
Eine führende Rolle in der aktuellen Bavinck-Forschung nimmt der schottische Gelehrte James Eglinton ein. Unter ihm haben mehrere jüngere Forscher promoviert. Mein aktuelles Studium bezieht sich auf den in den USA lehrenden N. Gray Sutanto. Neben seiner Dissertation «God and Knowledge: Herman Bavinck’s Theological Epistemology» (2020) ist er Mitübersetzer mehrer Schlüsselwerke, nämlich «Christian Worldview» (1904), «Philosophy of Revelation: A New Annotated Edition» (1908) sowie 2023 «Christianity and Science» (1904).
Der zweite Forscher ist Cory Brock, dessen Dissertation sich mit dem Spannungsfeld zwischen Rechtgläubigkeit und Moderne beschäftigt unter dem Titel «Orthodox yet Modern: Herman Bavinck’s Use of Friedrich Schleiermacher» (2020). Ein dritter Doktorand, Cam Clausing, beschäftigt sich mit der Historiografie Bavincks. Bruce Pass setzte sich in «The Heart of Dogmatics» (2020) mit dessen Christologie auseinander.
Eglinton, Verfasser einer ausgezeichneten Bavinck-Biografie (meine Rezension), führt zusammen zudem mit drei Kollegen (u. a. Gray Sutanto) einen Podcast «Grace in Common». Zur Einführung empfehle ich die beiden ersten Folgen «What is Neo-Calvinism?» (58 Minuten) sowie «Misunderstanding Neo-Calvinism» (41 Minuten). Ich bin zudem gespannt auf die in Kürze erscheinende Monografie «Neo-Calvinism: A Theological Introduction» (2023).
Die vier Forscher benennen das Konzept der Allgemeinen Gnade (ich nenne es «Erhaltende Gunst») als hilfreich und wegweisend, ebenso das Prinzip der Katholizität. Der Versuch des Niederländers, auf die beiden Revolutionen von 1789 (Frankreich) und 1848 (Europa) sowie die vorlaufende ideengeschichtliche Verirrung (Aufklärung) zu antworten und Rechtgläubigkeit im Angesicht dieser grundsätzlichen Verwerfungen hochzuhalten ohne die Dialogfähigkeit einzubüssen, war für sie ebenso entscheidend wie für mein eigenes Leben.
Nicht zu vergessen sind zwei englische Übersetzungen zweier für theologische «Normalos» geschriebenen Zusammenfassungen der Dogmatik: «Guidebook for Instruction in the Christian Religion» (Katechese) sowie «The Wonderful Works of God» (allgemeinverständliche Einführung in die Dogmatik). Es ist erfreulich, dass die Forschungstätigkeit zu Bavinck in Asien, Amerika und Europa floriert.