Nachruf Timothy Keller (1950-2023): Biblische Wahrheiten in die Lebensrealität des 21. Jahrhunderts übersetzt

Timothy Keller (* 1950) wurde am 19. Mai 2023 von seinem himmlischen Vorgesetzten abberufen. Erst kürzlich habe ich auf meine ausführliche Rezension von Kellers Biografie sowie auf meinen stündigen Vortrag hingewiesen.

Ausgewogene Darlegung biblischer Wahrheiten, gespiegelt im eigenen Leben

Ich bin nicht überrascht über die zahlreichen Reaktionen von Menschen, die im Wesentlichen zwei Dinge miteinander verbinden: Biblische Wahrheiten, wie sie Keller gepredigt hat, mit der eigenen Lebensrealität zu verknüpfen. Durch die ausgeprägte Fähigkeit, biblische Wahrheiten in ihren Grundzügen zu erfassen und sie in die Lebensrealität des 21. Jahrhunderts im Westen zu übersetzen, wurden Spuren in zahllose Leben hinein gelegt – auch in meines. Ich sammelte diese Brocken vor einigen Jahren. (Zu) häufig erlebte ich entweder entweder das Anliegen einer rigorosen Exegese der biblischen Texte oder aber das Bemühen um die Exegese der Kultur. In beiden Fällen schätze ich das Anliegen. Es scheint mir durch die fehlende Kombination oft die (Geist-gewirkte) Vitalität zu fehlen.

Sorgfältige Problemdiagnose

Was aus der Kombination entstehen kann, drückt der konservative Kolumnist der NYT, David Brooks, in seinem Nachruf aus – die unermüdliche Neuformulierung unseres grundlegenden menschlichen Problems:

Er führte keinen Kulturkampf gegen die Welt von Manhattan. Er konzentrierte sich nicht auf die Politik, sondern auf “unsere eigenen ungeordneten Herzen, die von unmäßigen Begierden nach Dingen geplagt sind, die uns kontrollieren, die uns dazu bringen, uns überlegen zu fühlen und diejenigen auszuschließen, die sie nicht haben, die uns nicht befriedigen, selbst wenn wir sie bekommen.”

Evangeliumsfülle als Antwort auf das urmenschliche Problem

Ray Ortlund weist in einem bereits übersetzten Artikel auf die “Evangeliumsfülle” von Kellers Dienst hin. Dies umreisst den zweiten Schritt: Die Lösung für unser ur-eigenstes menschliches Problem.

Mit „Evangeliumsfülle“ meine ich eine prinzipielle Sensibilität für das biblische Evangelium als Zentrum, das alles, was wahrhaft christlich ist, integriert. Ich meine eine Ehrfurcht vor dem Evangelium, das den Stand eines jeden von uns vor Gott völlig neu bestimmt – und auch vor all denjenigen, mit denen wir es tagtäglich in allen möglichen Alltagssituationen zu tun haben. Die Fülle des Evangeliums ist die Art und Weise Christus zu dienen, die seinem Wesen wahrhaft entspricht und ihn so sichtbar macht für die Augen der Welt. Auch unsere Gemeinden werden durch die Fülle des Evangeliums erneuert – dazu müssen wir aufhören, das Evangelium kleinzuhalten und ihm stattdessen erlauben, seine Kraft in praktischen Veränderungen zu entfalten.

Die kostbarsten Blüten in den schwierigsten Momenten des Lebens

Aus dieser Fülle heraus kann Frucht entstehen; es ist die Frucht der Dankbarkeit eines neuen Lebens. In der Einleitung zum Buch “Center Church” erwähnt Keller drei Elemente für die Evaluation von Kirchgemeinden. Das ist einmal der Erfolg im Sinne von zahlenmässigem Wachstum durch die Kreation von mächtigen religiösen Erfahrungen. Das zweite ist die Treue: “Nach dieser Auffassung kommt es nur darauf an, dass ein Pastor in der gesund in der Lehre, einen gottesfürchtigen Charakter trägt und Treue beim Predigen und in der Seelsorge beweist.” Beide Merkmale erweisen sich als unzureichend. Keller verweist auf ein drittes Kriterium der Fruchtbarkeit mit Bezug auf 1. Korinther 3: “Die Metapher der Gartenarbeit zeigt, dass sowohl der Erfolg als auch die Treue für sich genommen keine ausreichenden Kriterien für die Bewertung des Dienstes darstellen. Die Gärtner müssen in ihrer Arbeit treu sein, aber sie müssen auch Geschicklichkeit beweisen, sonst wird der Garten nicht gedeihen. Letzten Endes ist jedoch der Grad des Erfolgs des Gartens (oder des Dienstes) von Faktoren bestimmt, die sich der Kontrolle des Gärtners entziehen.”

Diese Frucht zeigt sich besonders in den schwierigsten Momenten des Lebens. DesiringGod gab einen denkwürdigen Ausschnitt aus der Predigt Kellers “The Gospel and Courage” vom 26. Mai 2013 wieder. Keller bezieht sich darin – wie oft –  auf eine Stelle aus dem Epos “Der Herr der Ringe”. Sie befasst mit sich mit dem Entschluss von Sam Gamdschie seinen Herrn Frodo zu retten, gespeist aus der Hoffnung. Nicht der schon im antiken Stoizismus vorhandene Selbstbemächtigungsgedanke “ich habe keine Furcht vor dem Tod”, sondern eine durch den Glaube und die daraus folgende Hoffnung, bestimmt das Leben des erlösten Menschen:

Willst du furchtlos sein? Willst du hinausschauen und sagen: “Nichts kann mich wirklich verletzen, weil ich eine unfehlbare Hoffnung habe”? Willst du hinausschauen und sagen: “Selbst das Schlimmste, was mir passieren kann – der Tod – kann mich nur besser machen”? “Verschone mich nicht, Tod! Ich bitte dich. Du könntest mich nur besser machen, als ich jetzt bin.”

Keller, gezeichnet von der erneuten Krebsdiagnose, schrieb 2021 über Glaubenswachstum im Angesicht des Todes, aus dem ich auszugsweise zitiert habe. Unter den letzten Publikationen von Keller finden sich übrigens drei kurze Werke zu drei Lebensmomenten, die auch in der säkularisierten Umgebung des Westens in der Form von Übergangsriten Aufmerksamkeit erregen: Geburt, Heirat und Tod (englisch in einer Box; deutsche Übersetzung “Tod”).

Es ermutigt mich ungemein, dass im christlichen Leben kein einziger Moment der Wirklichkeit ausgeblendet werden muss. Der Freund und Weggefährte Donald Carson (* 1946) bringt es in seinem Tribut auf den Punkt, weshalb Keller ein Zeitgenosse war, mit dem man gerne Zeit verbrachte:

Es kommt vor, dass man einen Menschen trifft, mit dem man sich sofort verbunden fühlt. Tim war diese Art von Freund. Unsere Gespräche gerieten nie ins Stocken, so als müssten wir uns abmühen, um etwas zu finden, worüber wir reden konnten. Theologie, der Zustand der Kirche, die Stärken und Schwächen des konfessionellen Evangelikalismus, die dringende Notwendigkeit von mehr auslegenden Predigten, die Analyse aktueller kultureller und anderer Trends in Amerika und anderswo, die Bedeutung bestimmter Bibelstellen, geistliche Disziplinen – all das und mehr nahm unsere Gespräche in Anspruch…

Weiterlesen:

  • Predigt zu Johannes 3 (TGC Konferenz 2019)
  • Letzte Botschaft an die Redeemer-Gemeinde in NY
  • Nachruf von Evangelium21
  • Matt Smetthurst hat 50 profunde Zitate Kellers gebloggt.
  • 20 Zitate zur Auferstehungshoffnung
  • Russell Moore publizierte einen Podcast zu Kellers himmlischer Hoffnung.
  • Artikel zum Lebenswerk und Einfluss Kellers