Es bewegt sich was in der Bavinck-Forschung. Ich habe bereits (hier und hier) von meiner Lektüre von Bruce Pass berichtet, der das dogmatische Zentrum Bavincks untersucht. Er entdeckt dabei in der Verwendung des Begriffs des Organischen, der aus dem deutschen Idealismus stammt, gewisse Unstimmigkeiten. Ich beziehe mich auf den Aufsatz “Trinity or German idealism? Reconsidering the origins of Herman Bavinck’s organic motif” (2023).
Zur Ausgangslage:
Ein Großteil des Enthusiasmus für die Verwendung von Bavinck in Projekten der theologischen Aufarbeitung wurde durch Eglintons zentrale These ausgelöst: dass es Bavinck gelungen sei, Orthodoxie und Modernität in einer einheitlichen, ja “organischen” Synthese zu verbinden. Diese neue Lesart warf das vorherrschende Paradigma in der anglophonen Bavinck-Forschung über den Haufen, das (zu Recht oder zu Unrecht) die so genannte “Zwei-Bavinck-Hypothese” hervorbrachte, eine Bewertung Bavincks als widersprüchlicher und inkohärenter Denker zwischen Orthodoxie und Modernität. All dies ist zwar zu begrüßen, doch beruht dieses neue Auslegungsparadigma auf einem bedeutenden Auslegungsfehler.
… Eglinton argumentiert nicht nur, dass der Begriff des Organischen ein allgemeines Merkmal des Calvinismus ist, sondern dass Bavinck mit seiner Ableitung des Organismus aus der Trinitätslehre einen einzigartigen Beitrag zur reformierten Tradition leiste. … Eglinton zählt vier Hauptmerkmale des Bavinck’schen Organismus auf: i) Einheit in der Vielfalt, ii) Vorrang des Ganzen vor den Teilen, iii) die leitende Rolle der Idee und iv) Teleologie.
Pass ortet N. Gray Sutanto in einer mittleren Position:
Sutanto bewahrt also den in eine Richtung verlaufenden Ideenfluss von der Theologie zur Philosophie, den Mattson, Eglinton und andere bestätigen, ordnet aber Elemente des absoluten Idealismus der Kontrolle einer im Wesentlichen theologischen Idee unter. … Sutanto bemüht sich zu zeigen, dass Bavinck ein eklektischer Denker ist und dass frühere Interpretationen falsch seien, die Bavincks Aneignung von Thomas von Aquin betonten, um ihn für ein vormodernes Paradigma in Anspruch zu nehmen; ebenso Bavincks Aneignung postkantianischer Denker, um ihn für ein modernes Paradigma in Anspruch zu nehmen.
Pass entdeckt bedeutend mehr Gemeinsamkeiten zwischen Bavinck und Schelling:
Bavinck lehnt zwar die Identitätsphilosophie ab, die Schellings Naturphilosophie zugrunde liegt, aber er übernimmt die formalen Eigenschaften des Organischen buchstabengetreu und wendet sie in gleicher Weise an. Wie Schelling führt Bavinck die Einheit des Organismus auf ein konstitutives Prinzip zurück, das sich in der lebendigen Kraft (levenskracht) manifestiert. Wie bei Schelling begründet und steuert die lebendige Kraft des Bavinck’schen Organismus seine Entwicklung. Vor allem aber weist Bavincks Organismus, wie der von Schelling, auf eine indirekte Entsprechung von Mechanismus und Teleologie hin.
Seine Schlussfolgerung:
Was Bavinck sich vom deutschen Idealismus aneignet, sind nicht nur einige organische Komponenten, sondern ein begrifflicher Rahmen. Es ist nicht nur ein Feld, eine empirische Repräsentation, sondern ein Mittel, um Repräsentationen unter einen allgemeinen Begriff zu fassen. Obwohl Bavinck die Identitätsphilosophie, die dem Organismus zugrunde liegt, abschafft, ist das, was übrig bleibt, kein bloßes Bild oder eine Repräsentation, sondern die Schellingsche Vorstellung, dass die Wirklichkeit von einem konstitutiven Prinzip und einer lebendigen Kraft beherrscht wird. Die Unterscheidung zwischen “wereldbeeld” und “wereldbeschouwing” erscheint daher ein wenig zu bequem. Was Bavinck sich vom Organismus aneignet, betrifft eher die Idee als die bloße Darstellung. Konkret sind die Inkarnation und der Heilige Geist das konstitutive Prinzip und die lebendige Kraft des Organismus, der die Gott-Welt-Beziehung ist. Damit ist ein philosophisches Konstrukt in den Kern von Bavincks System vorgedrungen.
Ich kann Pass hier nicht folgen und stehe aktuell eher auf der Position Sutantos.