15 Ratschläge für Redner

Die letzten Tage habe ich mich mit meinem eigenen Vortragsstil auseinander gesetzt. Da ich häufig vor Gruppen auftrete, entwickle ich Gewohnheiten, die mich nicht stören, jedoch meine Zuhörer. Mein Verständnis: Ich bin verantwortlich für die Weise, wie ich kommuniziere. So sagt es auch Paulus in 1. Korinther 9: Er hat die Art und Weise der Präsentation seiner Zielgruppe angepasst.

Klärend und hilfreich fand ich insbesondere die Ratschläge von  Augustinus in seiner Schrift “Vom ersten katechetischen Unterricht”:

1. Sei nicht enttäuscht, wenn du deine Einsicht nicht immer in vollendete Worte packen kannst.

‎… vielleicht schienen dir selbst deine Worte nur deshalb für fremde Ohren so schlecht, weil du selbst ‎ein ‎besseres Verständnis gewünscht hättest. Auch ich habe an meinem Vortrag fast immer ‎Mißfallen. Ich ‎wünsche mir immer einen besseren und oft ist er auch wirklich in meinem Geist so ‎vorhanden, bevor ich ‎ihn in laute Worte zu kleiden beginne. Gelingt es mir dann nicht so gut als ‎ich es eigentlich [in meinem ‎Innern] wüßte, dann bin ich darüber betrübt, daß meine ‎Ausdrucksfähigkeit nicht an meine Einsicht ‎heranreichte.‎

2.  Lass dich nicht dazu verleiten, vor Verdriesslichkeit die Hände in den Schoss zu legen.

Und trotzdem möchten wir voll glühenden Eifers, den Nutzen unserer Zuhörer zu fördern, ‎den ‎Gegenstand unserer Rede so darlegen, wie wir ihn in dem Augenblick erfassen, wo wir wegen ‎des ‎inneren Aufmerkens [auf die aufblitzende Erkenntnis] noch nicht sprechen können. Weil uns ‎dies nun ‎nicht möglich ist, so befällt uns Kleinmut, und gerade als ob wir uns vergeblich Mühe ‎gäben, lassen wir ‎verdrießlich die Hände in den Schoß sinken; ‎

3. Lasse trotz Zeitknappheit genügend Musse, damit die Zuhörer sich mit dem Gegenstand ‎auseinandersetzen können.

man greife nur das Bemerkenswerte heraus, was die Zuhörer gerade am liebsten hören und wie es ‎die ‎Zeitumstände gerade mit sich bringen. Dies darf jedoch nicht sozusagen bloß verhüllt gezeigt ‎und dann ‎gleich wieder dem Anblick entzogen werden, man soll es vielmehr mit einer gewissen ‎weitläufigen Muße ‎auseinandersetzen und vor der Seele des Zuhörers entfalten, damit er es ‎betrachten und bewundern ‎kann. ‎

4. Behalte den Endzweck im Auge – die von Christus gelehrte Liebe zu ihm und zueinander.‎

5. Bedenke mögliche Beweggründe der Teilnehmer.‎

6. Verirre dich nicht in unnötigen Details.‎

Lassen wir uns indes auf die Darlegung der Gründe nicht so ein, daß Herz und Mund den Faden ‎der ‎Erzählung verlieren und sich in verwickelte und schwierige Untersuchungen verirren; ‎unsere ‎wahrheitsgetreue Darstellung sei gleichsam nur die Goldfassung, welche die ‎Perlenreihe ‎zusammenhält, die aber nicht durch Überladung die Schmuckkette irgendwie stört. ‎

7. Reite nicht auf Dingen herum, die hinreichend bekannt sind.

‎Solche Menschen pflegen nämlich nicht erst in dem Augenblick, wo sie Christ werden, sondern ‎schon ‎vorher alles ernstlich zu untersuchen und sich über das, was ihnen Herz und Sinn bewegt, ‎mit anderen ‎gründlich auszusprechen. Bei ihnen muß man sich darum kurz fassen und darf ihnen ‎nicht zudringlich ‎einzuprägen suchen, was sie bereits kennen, ‎

8. Achtung: Es gibt Leute, die mehr auf die Schönheit des Ausdruckes als auf den Inhalt achten.‎

9. Stürze dich nicht zu deiner eigenen Verteidigung von einem kleinen Irrtum in einen noch grösseren ‎Irrtum.‎

10. Lass durch die Freude, welche die anderen bei der Neuheit des Anblickes hervorgerufen wird, deine eigene Freude ‎erneuern!‎

11. Wenn sich die Teilnahmslosigkeit nicht durchbrechen lässt:‎

‎Ist der Zuhörer aber gar zu schwerfällig, so daß er auch für solche Schönheiten keinen Sinn oder ‎gar nur ‎Abneigung hat, dann ertrage man ihn eben mit Nachsicht und schärfe ihm nach einer nur ‎knappen ‎Behandlung vor allem andern lediglich das Allernotwendigste ein, d.h. die Wahrheiten ‎von der Einheit ‎der Kirche, von den Versuchungen, vom christlichen Wandel, den wir wegen des ‎künftigen Gerichtes zu ‎führen haben, und verlege sich darauf, mehr für ihn zu Gott, als vor ihm ‎von Gott zu sprechen.‎

12. Pass auf, dass du nicht aus Nachsicht zu weit entgegen kommst – und eine Neigung des Teilnehmers noch ‎verstärkst.‎

Doch soll dies nur kurz geschehen, vor allem deshalb, weil es ja außerhalb des Zusammenhangs ‎liegt; ‎denn sonst könnte ja gerade das Heilmittel selbst die Krankheit des Überdrusses, der wir ‎doch ‎entgegenarbeiten wollen, noch verstärken. ‎

13. Wir wissen nicht, was die Menschen, denen unser Dienst gilt, von Seite Gottes verdienen.‎

14. Lass dich unterbrechen in deiner schönen Ordnung.‎

können wir sie dann in der von uns beabsichtigten Ordnung auch ausführen, dann wollen wir uns ‎darüber ‎freuen, aber nicht darob, weil wir, sondern weil Gott sein Wohlgefallen daran gehabt hat; ‎tritt aber ein ‎Zwangsfall ein, der diese unsere [schöne] Ordnung stört, so sollen wir uns gern ‎beugen, aber nicht ‎brechen: soll ja doch die von Gott der unsrigen vorgezogene Ordnung auch die ‎unsrige sein.‎

Denn derjenige ordnet seine Geschäfte am besten, der größere Bereitwilligkeit hat, auf das zu ‎verzichten, ‎woran die Macht Gottes ihn hindert, als wer darnach begehrt, das zu tun, worauf er ‎mit seinem ‎menschlichen Denken sinnt.‎

15. Eine schriftliche Ausarbeitung ist etwas ganz anderes als ein mündlicher Vortrag.

Ich such’ mir eine neue Kirche (12): Sehnsucht.

Manchmal höre ich, dass Menschen eine Sehnsucht haben, wenn sie an funktionierende Gemeinde ‎denken. Eine Sehnsucht nach was? Beim Nachfragen erhalte ich die Antwort: Eine Sehnsucht nach ‎Erweckung. Damit ist auf der gemeinschaftlichen Ebene gemeint: Eine stark zunehmende Zahl an ‎Gottesdienstbesuchern sowie sichtbare Auswirkungen in der (geografischen) Umgebung der ‎Gemeinde, unterstützt durch körperliche Heilungen. Auf der individuellen Ebene bedeutet dies: ‎Sichtbare Manifestationen des Heiligen Geistes sowie klare Eindrücke für anstehende ‎Entscheidungen.‎

Dazu drei Überlegungen: ‎

  1. Ausgangspunkt einer Erweckung ist primär die Sehnsucht nach Gottes Wort. Damit verbunden ist ‎ein starkes Sündenbewusstsein, das zum Bekenntnis führt (Beispiele: Esra 9 – Nehemia 9 – Daniel ‎‎9).‎
  2. Weshalb suchen wir nach Eindrücken für unsere Entscheidungen? Wer sich vermehrt mit Gottes ‎Willen, den er in der Heiligen Schrift offenbart hat, auseinandersetzt (Beispiele: Sexuelle Reinheit, ‎‎1 Thessalonicher 4; grosszügiger Umgang mit den eigenen Gütern, 1. Timotheus 6; Bereitschaft zu ‎leiden, 1. Petrus 4 etc.), erhält einerseits Hinweise für seine Lebensführung und zusätzlich ein ‎grösseres Zutrauen in seine (uns verborgene) souveräne Führung. Ich befürchte, dass unsere Suche ‎nach Eindrücken eher Zeichen unseres Unglaubens und unserer Bequemlichkeit sind (für die ‎Herleitung dieses Arguments verweise ich auf diesen Post).‎
  3. Da wir aus Sicht von Gottes Heilsgeschichte noch nicht in der Vollendung leben, sondern jetzt-‎schon-aber-noch-nicht (siehe die kleine Blogserie „Zwischen D-Day und V-Day“), setzt Gottes ‎Widersacher in Zeiten des Aufbruchs eine andere Trumpfkarte ein: Statt der Gleichgültigkeit wirkt ‎er durch Überspanntheit (wie Jonathan Edwards aus erster Hand während der Grossen Erweckung ‎berichten konnte).‎

Die Kunst des respektvollen Umgangs bei Meinungsverschiedenheiten

Das Interview mit Roger Nicole (siehe dieser Post) hat’s in sich. Zum Schluss wird er auf seine Art mit ‎Meinungsverschiedenheiten umzugehen angesprochen. Für Nicole gibt es drei Schlüsselfragen:‎ ‎

  1. “What do I owe?”‎ I owe them to seek to understand what makes them tick and why they express themselves as they do. Also, I owe them to go back as much as I can to a place where we can agree, so as to see whether we can form an agreement so that you limit disagreement as much as you can. In that way you become not an enemy but a friend who guides them.‎
  2. ‎“What can I learn from them?”‎ I can … learn that I’m not expressing myself well, so that they don’t understand what I’m trying to say. …Then I can learn that in order to reach people, I have to find other ways of ‎approaching them than what I’ve done so far.‎
  3. ‎“How can I cope with them?”‎ ‎… Sometimes I intentionally don’t mention a certain objection. I know it is coming, so on purpose I don’t mention it. I let them do it because I know I can overcome it.‎

Wer bedauert auf dem Sterbebett, dass er nicht mehr Zeit im Büro verbracht hat?

Ein guter Titel, nicht wahr? Er stammt aus dem Buch von Stephen R. Covey & A. Roger Merrill, Rebecca R. Merrill  “Der Weg zum Wesentlichen – Zeitmanagement der vierten Generation”. Das Buch fiel mir bei einem Streifzug durch ein Brockenhaus in die Hände.

Wir treffen ständig Entscheidungen über unsere Zeiteinteilung – von den Jahreszeiten bis hin zu einzelnen Momenten in unserem Leben. Mit den Konsequenzen dieser Entscheidungen müssen wir leben. Und viele von uns sind nicht gerade erbaut über diese Konsequenzen, vor allem wenn sich eine tiefe Kluft zwischen der tatsächlichen Lebenführung und den eigentlich wichtigen Lebensinhalten auftut. (15)

Als gefährlich-anregendes Lebensmuster wird die Dringlichkeitssucht beschrieben:

Die Lösung dringender und wichtiger Krisen verschafft uns ein vorübergehendes Hochgefühl. Man erwartet von uns, dass wir beschäftigt ja sogar überarbeitet sind. Es ist zu einem Statussymbol in unserer Gesellschaft geworden: Wenn wir beschäftigt sind, sind wir wichtig. Es ist geradezu peinlich für uns, zuzugeben, dass wir nicht beschäftigt sind. Aus der Geschäftigkeit beziehen wir unsere Sicherheit, und sie dient uns als Vorwand dafür, uns nicht mit den wichtigen Dingen in unserem Leben auseinanderzusetzen. (30)

Interessant ist auch die Abgrenzung ihrer Philosophie zur Religion:

Wir befassen uns nicht mit Erlösung, dem Leben nach dem Tod oder dem Ursprung dieser Prinzipien. Wir halten diese Themen für Fragen, die jeder einzelne für sich selbst klären muss. Wir beschäftigen uns nicht damit, weshalb der Nordpol existiert, woher er kommt oder wie er entstanden ist. Wir beschäftigen uns nur mit der Tatsache, dass er existiert und die Qualität unseres Lebens bestimmt. Hinweise auf diese Prinzipien tauchen in den heiligen Schriften aller grösseren Religionen auf, aber einige Facetten finden wir auch im gesprochenen und geschriebenen Wort von Philosophen, Wissenschaftlern, Königen Bauern und Heiligen aus allen Weltgegenden und Zeitaltern. Die fundamentalen Prinzipien sind von allen grossen Zivilisationen der Geschichte erkannt und anerkannt worden. (49)

Gott und Mensch müssen vor allem wieder ihre wahre Stellung einnehmen

Die Institutio beginnt mit dem Satz: “All unsere Weisheit, sofern sie wirklich den Namen Weisheit verdient und wahr und zuverlässig ist, umfasst im Grund eigentlich zweierlei: Die Erkenntnis Gottes und unsere Selbsterkenntnis.” Gleich zu Beginn seines Werkes stellt Calvin also seine ganze Theologie unter das Zeichen, das zu den Hauptprinzipien der Reformation zählt: die absolute Transzendenz Gottes und sein totales Anderssein im Vergleich zum Menschen. Eine christliche und schriftgemässe Theologie gibt es nur, wenn der unendliche Abstand gewahrt bleibt, der Gott von seinem Geschöpf trennt, und wenn jegliche Verwechslung, jegliche “Vermischung” vermieden wird, die den radikalen Unterschied zwischen Göttlichem und Menschlichem zu verwischen versucht. Gott und der Mensch müssen vor allem wieder ihre wahre Stellung einnehmen. Das ist der Grundgedanke, der Calvins gesamte Theologie beherrscht und der auch den meisten seiner Lehrstreitigkeiten zugrunde lag.

Aus: François Wendel. Calvin – Ursprung und Entwicklung seiner Theologie. Neukirchener Verlag: Neukirchen-Vluyn 1968. (130)

Fehlbare Bibel?

Der kürzlich verstorbene Roger Nicole, einer der prägenden evangelikalen Gelehrten aus dem 20. Jahrhundert, hat mit 92 Jahren ein längeres Interview gegeben. Er äusserte sich darin länger zur Frage der Unfehlbarkeit der Bibel. Es sei wichtig zu entdecken, was die Definition eines “Fehlers” sei:

The difference between an error and a lie is that a lie is a faulty representation consciously presented by someone who knows better, and an error is an unintentional departure from a factual element.

Basierend auf diesem Verständnis zieht er folgenden Schluss:

Whatever the Bible says is conformed to factual identity or reality and does not depart in the way in which it is presented from proper criteria of truth.

Ich pflichte ihm bei: Wenn immer wir die Heilige Schrift lesen, sind  wir auf die Hilfe des Heiligen Geistes angewiesen.

We need contact with the Holy Spirit of God to carry on in the right direction. Instead of that, we commit ourselves to being secularized and conformed to secular ideas and approaches, which damage the purity and effectiveness of the church.

Ich such’ mir eine neue Kirche (11): Wenn ich keinen Dienst hätte…

Ab und an habe ich den Eindruck (vielleicht täusche ich mich), dass der Gemeindebesuch vor allem mit dem Dienst verbunden ist. Ich muss ja aufstehen, weil ich Kinder hüte, Kaffee ausschenke, Musik mache, das Mischpult bediene, die Leute begrüsse… Am Gedanken, dass mit der Kirche ein Dienst verbunden ist, ist an sich auch nichts Falsches. Im Gegenteil: Im Alten Bund wurden die Priester mittels Losen zugeteilt, um während einer bestimmten Zeit im Jahr ihren Dienst auszuüben. Und im Neuen Bund geht Paulus davon aus, dass immer dann, wenn die Gemeinde zusammenkommt, jeder mit seinen Gaben dient. Gerade das ist ja das Kennzeichen der Gemeinde: Einander ergänzende Gaben, die sich zur Ehre von Jesus, zur Ausbreitung seines Reiches und zur gegenseitigen Erbauung einbringen. 

Doch wie mit allen Diensten (insbesondere auch dem Dienst der Erwerbs-Arbeit, die wir notabene ebenso zur Ehre von Jesus ausführen sollen), vergessen wir mit der Zeit den eigentlichen Zweck und den eigentlichen Adressaten des Wirkens. Ursache und Wirkung drehen sich um: Wir gehen in die Gemeinde, weil wir einen Dienst absolvieren müssen. Wir erscheinen, weil wir im Dienstplan eingetragen sind. Wäre es an der Zeit, unseren Herrn anzurufen, dass er unser Denken und Fühlen wieder neu mit der Sehnsucht nach seinem Tempel erfüllt (um diesen alttestamentlichen Terminus zu verwenden)?

Ein Psalm zum Dankopfer. Jauchzet dem HERRN, alle Welt! Dienet dem HERRN mit Freuden, kommt vor sein Angesicht mit Frohlocken! Erkennet, dass der HERR Gott ist! Er hat uns gemacht und nicht wir selbst zu seinem Volk und zu Schafen seiner Weide. Gehet zu seinen Toren ein mit Danken, / zu seinen Vorhöfen mit Loben; danket ihm, lobet seinen Namen! Denn der HERR ist freundlich, / und seine Gnade währet ewig und seine Wahrheit für und für. (Psalm 100)

Ich such’ mir eine neue Kirche (10): Lebens-Geschichten.

Bis jetzt habe ich mehrheitlich Beiträge zur Seite der Form beschrieben (weil sie aus meiner Sicht verschüttet ist durch eigens gebauten Formen, mit denen wir seine guten Normen zugeschüttet haben). Lasst mich noch eine andere Seite einbringen. Warum sprechen wir immer über diejenigen, die nicht in den Gottesdienst kommen, abhängen, abgehängt haben? Habe ich auch einen Blick für diejenigen, die kommen? Noch genauer: Für diejenigen, die treu erscheinen, und denen ich höchstens mal “Guete Morge” gesagt habe? An einem der letzten Sonntage hatte ich das Gefühl (um nicht zu sagen den Eindruck), dass ich eine solche Person etwas besser kennen lernen sollte. Ich hatte diesen Menschen zuletzt auch ausserhalb der Gemeinde angetroffen. Also: Nichts wie hin, um mehr über sein Leben zu erfahren. Nach 20 Minuten war ich tief getroffen und ermutigt. Wenn ich mein eigenes Leben neben das der anderen Person lege, dann bleibe ich weit zurück. So viele Schläge und Wunden, dass ich nur staunen kann über den Erlöser! Dafür ist doch Gemeinde (auch) da, in diesem Minuten erlebte ich “Gemeinschaft” pur.

Ich such’ mir eine neue Kirche (9): Der Vier-bis-sechs-Wochen-Rhythmus

Eigentlich wollte ich die Serie beenden. Es gehen mir aber so viele Gedanken durch den Kopf, dass ich trotzdem weiterfahre. Das Thema betrifft Form und Freiheit in der Kirche. Unter Form verstehe ich: All die Normen, die Gott in der Bibel in Befehlsform festgehalten hat. Unter Freiheit verstehe ich das übrige: Alles, was Gott nicht im Imperativ zu unserem Wohl angeordnet hat. Zudem ist wichtig: Eine Norm ist nur dann im “richtigen” Kontext, wenn sie den erlösten Menschen anspricht. Der vom Heiligen Geist wiedergeborene Mensch, seine neue Natur, hat Freude an seinen Geboten. Ansonsten ist es ein rein moralischer Appell und dient bei den einen dazu, die Verzweiflung zu vergrössern (ich schaffe das ja nicht) oder ihre Selbstgerechtigkeit zu untermauern (siehst du mal jener?). 

Also, nehmen wir uns mal eine solche Norm vor: Die Aufforderung, den Gottesdienst nicht zu versäumen. Was wird verpasst?

Lasst uns aufeinander Acht haben und uns anreizen zur Liebe und zu guten Werken und nicht verlassen unsre Versammlungen, wie einige zu tun pflegen, sondern einander ermahnen, und das umso mehr, als ihr seht, dass sich der Tag naht. (Hebräer 10,24-25)

Wie kann ich auf den anderen achthaben, wenn er oder sie sich entzieht? Wie kann ich ihm und er mir ein Anreiz zu guten Werken sein? Wie können wir uns ermahnen, wenn wir gar nie wissen, ob wir ihn oder sie sehen? Die Zeit schreitet fort – und der Gottesdienst wird immer wichtiger, also das Gegenteil unserer natürlichen Tendenz: Nachzulassen.

Jetzt mal ehrlich: Weshalb gehen viele (übertreibe ich?) nur noch alle vier – bis sechs Wochen in den Gottesdienst? (Achtung: Sage mir jetzt nicht, das sei gesetzlich. Das ist eine Ausflucht, denn Gott hat zu unserem Wohl eine andere Anordnung getroffen.) Ich habe mir überlegt, was ich alle vier bis sechs Wochen mache. Und es kam mir eine Gedanke, der mich schmunzeln liess: Alle vier bis sechs Wochen erledige ich nämlich meine Zahlungen. Jedes Mal muss ich mich dazu überwinden. Es kostet mich jedes Mal etwa zwei Stunden. Und ich bin jedes Mal froh, wenn ich die Angelegenheit hinter mir habe. (Ab und zu danke ich auch Gott, dass er mir das Geld geschenkt hat, meinen Verpflichtungen nachzukommen.) Geht es uns etwa ähnlich beim Gottesdienst? Ich muss es wieder mal hinter mich bringen? Oder ist das Ersatzangebot so gross? Weshalb schafften es die ersten Christen sich jeden Tag nach der (Sklaven-)Arbeit zu treffen? War es nur deshalb, weil sie keinen Fernseher hatten?

Nein, sicherlich nicht, denn es zog sie förmlich zu den Gottesdiensten. Sie hatten Sehnsucht Gottes Wort zu hören. Ich sehne mich nach einer Erweckung, ja, denn: Gott schickt uns dann die Sehnsucht, sein Wort zu hören. Und da ist: Reue, Erkenntnis, Bekenntnis, aber auch Trost, Freude, Anstoss und Anreiz. So stand ich auch heute Morgen mit leeren Händen vor meinem Gott “in der Versammlung”. Und ich realisierte: Heute ist Pfingsten. Gott hat seinen Heiligen Geist als Oberbefehlshaber über die Weltmission geschickt, um sein Werk – die Verkündigung der besten Botschaft, die es gibt – voranzutreiben und eines Tages zu vollenden. Bitte, schenke uns hier etwas von deinem Wind! Ich flehe darum.

Calvin und der Humanismus

Wie gross auch in seiner Jugend der Einfluss des Humanismus gewesen sein muss … so musste Calvin doch seine Bekehrung notwendigerweise als einen völligen Richtungswechsel auffassen. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten die humanistischen Werte in seinen Augen den Gipfel des vom Menschen Erreichbaren dargestellt. Der Humanismus war ihm im Verhältnis zur Religion, soweit er dem Kult der antiken Weisheit entsprach, als eine Vorbereitung, ein Hinschreiten zu den christlichen Wahrheiten erschienen. Jetzt merkte er, dass es eine Kontinuität zwischen der Philosophie der Alten und dem Christentum nicht gibt. Dem schon vom Wort her auf der Grösse des Menschen beruhenden Humanismus wird er von nun an die Verderbnis des Menschengeschlechts durch die Sünde und dessen Gottentfremdung entgegensetzen. Den Verfechtern des freien Willens und der menschlichen Autonomie wird er mit der Predigt von der Abhängigkeit des Menschen und seiner unausweichlichen Unterwerfung unter die Beschlüsse der Prädestination antworten. …

Vor seiner Bekehrung war der Humanismus für ihn Selbstzweck; nach diesem Ereignis ist er nur noch Mittel zum Zweck, und man kann … sagen, dass er sich des Humanismus bedient hat, um den Humanismus zu bekämpfen. Die Philosophen der Antike bewundert er auch weiterhin, er achtet fortgesetzt Erasmus und dessen Schüler, und er wird sein ganzes Leben hindurch nicht aufhören, ihre Arbeiten und Schriften sein ganzes Leben hindurch nicht aufhören, ihre Arbeiten und Schriften zu schätzen und zu benutzen. Aber er wird immer Sorge tragen, dass er sich nicht zu sehr an sie bindet, und er wird immer betonen, dass es nicht gut ist, ‘den Philosophen weiter zu folgen als es nötig ist’.

Aus: François Wendel. Calvin – Ursprung und Entwicklung seiner Theologie. Neukirchener Verlag: Neukirchen-Vluyn 1968. (29-30)