Ich kämpfe mich durch die Dissertation von Bruce Pass, der über den zentralen Platz der Christologie innerhalb der Dogmatik schrieb (einführend dazu diesen Podcast). Bisher war Mark Jones (siehe dieser überblickende Artikel sowie meine Rezi von “Knowing Christ”), ein wichtiger Wegmarker meines Verständnisses. Ja, es gibt die Bücher, bei denen ich vier-, fünfmal zum Lesen und Verstehen ansetze – besonders bei Klassikern. Ich gehe davon aus, dass mir Zusammenhänge und Bahnungen fehlen (besonders durch die “Luft des Alltags”) und möchte mir diese aneignen. Es hilft mir zudem, von meinen eigenen Projekten, Plänen und Knacknüssen Abstand zu nehmen und eine andere Perspektive einzunehmen. Dies tue ich bei eher vordergründigen Themen wie dem Leid oder eben bei Zentrallehren. Die nachfolgenden Auszüge sind den Seiten 60-62 entnommen.
Auf der ersten Seite des zweiten Bandes der Reformierten Dogmatik schreibt Bavinck: “[M]ysterium ist das Lebenselixier (lifeblood) der Dogmatik”. Dies ist kein rhetorischer Schnörkel. Das Wort Mysterium findet sich praktisch auf jeder Seite von Bavincks Schriften. Bavinck sagt zum Beispiel, dass die Welt voller Geheimnisse ist und selbst ein Geheimnis ist.Geheimnis. Der Ursprung der Dinge ist ein Geheimnis. Schwerkraft und Kraft sind ein Geheimnis. Die Macht der Natur ist ein Geheimnis. Tiere sind Rätsel. Die Vereinigung von Leib und Seele ist ein Geheimnis. Vererbung ist ein Rätsel. Außergewöhnliche Persönlichkeiten sind ein Rätsel. Jeder einzelne Mensch ist ein Rätsel, aber auch ein ewiger, ungeschaffener Person ist im Speziellen ein Mysterium. Die Dreifaltigkeit ist ein Mysterium. Die Beziehung zwischen zwischen Schöpfung und Vorsehung ist ein Geheimnis. Der Ursprung der Sünde und des Bösen ist ein Geheimnis. Die Menschwerdung ist ein Mysterium. Die auferstandene Menschheit Christi ist geheimnisvoll. Das Leben der Kirche ist ein Geheimnis. Die Mittel der Gnade sind ein Geheimnis. Die Heilige Schrift ist ein Rätsel. Der Glaube ist ein Geheimnis. Die Wiedergeburt ist ein Geheimnis. Die Psychologie der Religion ist ein Mysterium, und genauer gesagt, die Verbindung zwischen der Nervenstimulation und dem psychischen Ereignis ist ein Rätsel. Die Erkenntnistheorie ist voller Rätsel. Das moralische Leben ist ein Rätsel, ebenso wie die Verbindung zwischen Leben und Leiden. Der Tod ist ein Geheimnis. Der Zustand der endgültigen Heiligkeit ist ein ein Geheimnis. Dass Sterbliche mit Unsterblichkeit belohnt werden, ist ein Geheimnis. Freiheit, Verantwortung, Strafe, Leiden, Tod, Gnade, Sühne, Versöhnung, Versöhnung und Gebet sind allesamt Mysterien; Bewusstsein, Sprache, Willensfreiheit, und Religion sind allesamt Rätsel. Das Christentum als Ganzes ist ein Mysterium, ebenso wie die die Existenz selbst. Kurzum, alles ist ein Mysterium.
Wichtig ist zunächst die Einordnung in die damalige theologische Landschaft:
Das erste, was bei der Häufigkeit, mit der Bavinck diesen Begriff verwendet, zu beachten ist, wie sehr dies modernen Theologen am Ende des Ende des neunzehnten Jahrhunderts entspricht. Das Mysterium könnte man fast als das Leitmotiv der modernen Theologie bezeichnen.
Allerdings benutzt Bavinck den Begriff anders als die damaligen Theologen und knüpft an die Reformatoren an:
Bavinck verwendet das Mysterium als ein begrenzendes Konzept gegenüber der Lehre von den göttlichen Ideen. … Die Lehre von den göttlichen Ideen führt die Schöpfung auf ein Vorbild im göttlichen Geist zurück und betrachtet somit die Schöpfung als Verkörperung göttlicher Gedanken. Diese Bedeutung kommt in Bavincks Schriften recht häufig vor.
Bavinck diente sie damit sowohl ein Mittel für eine absolute Unterscheidung zwischen Gott und der Welt als auch dafür, die erkenntnistheoretische Kluft zwischen dem Idealen und dem Realen zu überbrücken.
Pass liefert dann eine dreifache Taxonomie des Begriffs Geheimnis:
- Neutestamentliche Bedeutung: Eine Wahrheit, die zu früheren Zeiten verborgen war
- Etwas, das gegenwärtig unbekannt bleibt (auch angesichts des technologischen Fortschritts)
- Was ein absolutes Geheimnis bleiben wird