Als Bürger der Stadt Zürich beschäftige ich mich regelmässig mit der Stadt- und Kulturgeschichte:
- Der Schweizer, der die Wirtschaftsgeschichte nachhaltig prägte
- Die neue Lust am Nachwuchs
- Strategie 2035 meiner Heimatstadt
- Seelsorge mit Schwerkranken und Sterbenden
- Das Klärwerk und die Allmacht Gottes
- Wenn die Musik verhallt ist
- Das Elend der reinen Ästhetik
- Ersatzgottesdienst
- Sich mit der Umgebung auseinandersetzen
- Die soziale Funktion der Zünfte in Zürich
Neu las ich in der von einem Historiker erstellten Broschüre Obdachlosenhilfe und Wohnintegration der Stadt Zürich. Einige Auszüge:
Die erste städtische Einrichtung, in der Obdachlose untergebracht wurden, war ab 1831 die «Verhaftsanstalt Im Berg» im heutigen Universitätsquartier. Allerdings nannte man
die hier Eingebrachten nicht Obdachlose sondern «Vaganten». Sie galten als «liederliche, arbeitsscheue Personen» und wurden verfolgt. Die «Verhaftsanstalt» war denn auch, wie der Name verheisst, eine polizeiliche Einrichtung. 1909 wurde die «Verhaftsanstalt» an die Schipfe verschoben und 1914, als die Haftzellen aufgehoben wurden, in «Bürgerstube» umbenannt. Als Ergänzung wurde 1913 im landwirtschaftlichen Gutsbetrieb «Zur Weid» in Rossau-Mettmenstetten die «Anstalt für Männer» eröffnet, in der Stadtzürcher «versorgt» wurden, «die infolge ihres unausrottbaren Hanges zur Landstreicherei», so der Stadtrat, «sich dauernd ausserstande erweisen, sich als brauchbare und nützliche Glieder der Ge- sellschaft zu erweisen». (9)… Kriegswirtschaftliche Engpässe beim Wohnungsbau hatten ab 1942 in der ganzen Schweiz zu extremer Wohnungsnot und Obdachlosigkeit geführt. In der Stadt Zürich waren die bestehenden Obdachlosenheime – die städti- sche Bürgerstube an der Schipfe und das Männerheim der Heilsarmee im Langstrassequartier – bis aufs letzte Bett belegt. Um die Situation zu ent- schärfen, rief der Stadtrat 1943 das «Büro für Obdachlosenfürsorge» ins Leben, das die Situation sozial schwacher Einzelpersonen verbessern soll- te. Doch neben den «Alleinstehenden» waren auch immer häufiger Familien mit Kindern von Obdachlosigkeit betroffen. So mussten Familien während des laufenden Schulbetriebs in Schulzimmern einquartiert werden.
Als sich die Lage weiter verschärfte, bewilligte der Zürcher Gemeinderat 1945 den Bau von 18 Notbaracken für obdachlose Familien im Aussenquar- tier Altstetten und am Bucheggplatz. Die Lage blieb jedoch so prekär, dass der Stadtrat im Februar 1946 einen Appell an die Bevölkerung richtete, Wohnungen zur Verfügung zu stellen. Der Effekt dieser «Wohnraumbe- schaffungskampagne» war überschaubar: Knapp 100 brauchbare Unter- bringungsmöglichkeiten kamen zusammen. In der Not schaute sich die Stadt Zürich auch ausserhalb der Stadtgrenze um und kaufte in Rümlang 16 Einfamilienhäuser, um obdachlose Familien unterzubringen. Gleichzeitig wurde das «Büro für Obdachlosenfürsorge» ins «Büro für Notwohnungen» umgewandelt und der städtischen Liegenschaftsverwaltung angegliedert. (11)
…
Wie gross das Problem der offenen Obdachlosigkeit in der Stadt Zürich gewesen sein muss, zeigt eine Forderung aus dem Gemeinderat von 1947: Der Stadtrat müsse dringend Massnahmen treffen, «damit die in Ziegeleien, Tramwartehäuschen, Unterführungen usw. Unterkunft suchenden Obdach- losen in hygienisch einwandfreien Lokalitäten ohne bürokratische Mass- nahmen nächtigen können.» Der Stadtrat reagierte, indem er in einem ehe- maligen Sanitätsbunker unter dem Hallenbad City eine Notschlafstelle mit 105 Betten errichtete. Im gleichen Jahr eröffnete die Stadt zwei weitere Not- schlafstellen an der Schulhausstrasse und in der Hardau, letztere explizit für «Übernächtler der Zürcher Ziegeleien». 1949 wurde das Notschlafstel- lenangebot mit Betten im Niederdorf komplettiert. Ende der 1940er-Jahre gab es in der Stadt Zürich über 300 Plätze in insgesamt vier städtischen Notschlafstellen. Das Angebot wurde sofort rege genutzt, die Einrichtungen waren fast jede Nacht voll ausgelastet. In einem Zwischenbericht des Büros für Notwohnungen vom Sommer 1947 hiess es, dass es viele Dauergäste gebe, die dort wohnten, weil sie die Miete für ein Zimmer nicht im Voraus aufbringen konnten. Es sei erfreulich, «dass sich der überwiegende Teil der Schlafgänger aus anständigen Elementen zusammensetzt.» 1963 lag die durchschnittliche Aufenthaltsdauer in der Notschlafstelle unter dem Hallen- bad bei fast zwei Jahren. Die Mehrheit der Nutzerinnen und Nutzer war ar- beitstätig und profierte vom nicht sehr komfortablen, aber billigen Angebot der Stadt. Die erste Nacht kostete 4 Franken, jede weitere Übernachtung 1.70 Franken. Der Tages-Anzeiger titelte 1964 deshalb: «Zürichs billigstes ‹Hotel Garni›». (13)