Vortrag: Richtig klagen lernen

Das ist eine ungemein zu Herzen gehende Folge des Podcasts “Help Me Teach the Bible” zum kurzen Buch der Klagelieder. Was ich daraus lernte:

  1. Colin Smith begleitete eine Familie durch eine tragische Verlusterfahrung. Wer sich der Realität zuwendet, bemerkt diese Geschichten, die viele Menschen begleitet. Zu oft stehen auch Christen ihnen hilflos gegenüber.
  2. Smith wurde  bewusst, dass er im Laufe all der Jahre noch nie durch das Buch der Klagelieder gegangen war.
  3. Es stellt sich heute – wie seit eh und je – die Frage, was es heisst recht zu trauern (to grieve properly).
  4. Um die Brücke zu heute herzustellen, ist es wichtig, sich den damaligen Schreibanlass plastisch vor Augen zu führen. Es ging um eine brutale Belagerung und Eroberung Jerusalems. Zuerst raffte es Junge und Alte, die Schwächsten, durch den Hunger dahin.
  5. Jeremia, der mutmassliche Autor, agiert in einer Rolle als Seelsorger. Er sprach für das Volk (er identifizierte sich), um zum Schluss mit ihm zu sprechen (ab 5,1 Wechsel auf die Wir-Form).
  6. Das Bewusstsein der direkten Schuld zieht sich als roter Faden durch das kurze Buch. Im Gegensatz zu Hiob, wo betont wird, dass das Leid einen Gerechten traf.
  7. Die Klage ist ungemein schwer und dunkel. Umso heller leuchtet im 3. Kapitel die Hoffnung auf die Gnade Gottes auf!
  8. Das kurze Buch endet mit der Bitte um Wiederherstellung. Diese kann nicht aus eigener Kraft bewerkstelligt werden.

Neulich erstellte ich eine vierteilige Serie zum Buch der Klagelieder.

Input: Wie hältst du es mit dem Lesen?

Ich lese seit Jahrzehnten. Leidenschaftlich. In Gesundheit und Krankheit, Lust und Unlust, konzentriert und zerstreut. Ich liebe es in die Gedanken- und Lebenswelt anderer Menschen anderer Zeiten und Orte eintauchen zu können. In einem Seminar in einer christlichen Schule (2022) legte ich dar, wie Lesen den Denk- und Handlungsspielraum erweitert.

Karl Schudt und Scott Hambrick unterhielten sich darüber, wie sie es mit dem Lesen hielten.

Hier sind einige Hinweise, die  mir hängen bleiben:

  1. Lies zur Entspannung; Krimis, Fiction, Heimatromane. Nütze dazu Randzeiten – z. B. vor dem Schlafengehen.
  2. Lass Inhalt, Gestalt – gewissermassen den Seins-Gehalt eines Buches – auf dich wirken. Es lohnt sich darüber nachzudenken und auszutauschen.
  3. Sorge für einen geeigneten Lernplatz und Lerninstrumente. Es kann ein Sessel sein, ein Stehpult. Gerade so wichtig ist eine geeignete Aussicht. Dafür sorge ich auch unterwegs.
  4. Die einen Bücher sollen einfach gelesen oder sogar wiederholt genossen werden. Andere wollen mit Markierungen, Schlagwörtern, Begriffen oder Fragen ergänzt sein. 
  5. Halte Ablenkung fern. Lesen mit Netzzugriff erhöht die Gefahr der Aufmerksamkeitszersetzung.
  6. Lass dir Zeit zum Lesen. Zu Beginn liest sich ein Klassiker aus einer anderen Zeit nicht einfach. Du kämpfst dich Seite und Seite vorwärts. Doch: Es gilt sich mit anderen Gedankengängen vertraut zu machen. Was du dir aneignest, erkämpfst, eroberst, gehört dann auch dir.
  7. Plane über längere Strecken: Monate, Jahre oder gar Lebensphasen. Was in Regelmässigkeit über einen grossen Zeitraum getan wird, wirft erst “Dividenden” ab.
  8. Lies Texte gegen dich. Suche nicht in erster Linie nach Bestätigung der eigenen Thesen; verfolge Gedankengänge bis zum Schluss. Und ja, “not agree” ist legitim, sogar gefordert.

Zitat der Woche: Wenn das Alter über vergangene Genüsse der Jugend klagt

Der aufmerksame Leser mag gemerkt haben, dass ich mich 2024 erneut Klassikern zugewandt habe, aktuell “Walk with the Classics”: Beim Gehen höre ich mir Texte an, darunter Platons Hauptwerk “Der Staat”.

Aus Platons “Der Staat” (Buch 1,3), Kephalos mit Sokrates:

… da jammern nun die meisten von uns, wenn wir beisammen sind, indem sie nach den in der Jugend genossenen Vergnügungen ein Verlangen haben und sich an dieselben zurückerinnern, sowohl betreffs des Liebesgenusses und der Trinkgelage und Schmausereien, als auch betreffs irgend anderer Dinge, welche an Derartiges sich knüpfen, und sie fühlen sich gedrückt, als wären sie irgend großer Dinge beraubt, und als wäre es wohl damals ein gutes Leben gewesen, jetzt aber nicht einmal mehr ein Leben; Einige aber beklagen auch die Beschimpfungen des Greisenalters von Seite ihrer Angehörigen, und singen darauf hin stets das Lied über das Greisenalter, an wie vielen Uebeln es für sie Schuld sei. 

Auch diese Thematik kommt mir bekannt vor (I,4):

Ich glaube, o Kephalos, daß die Meisten, wann du solches sagst, es nicht willig von dir annehmen, sondern der Ansicht sind, daß wohl du das Greisenalter leicht ertragest, nicht wegen deines Charakters, sondern weil du großes Vermögen besitzest, denn von den Reichen sagt man, daß sie gar viele Beschwichtigungsmittel haben. … Was ich selbst erworben habe, sagte er, frägst du, o Sokrates? So ziemlich in der Mitte stehe ich bezüglich der Geldgeschäfte zwischen meinem Großvater und meinem Vater; mein Großvater nemlich, welcher ebenso hieß wie ich, hat ungefähr das gleiche Vermögen, welches ich jetzt besitze, überkommen, es aber dann vielmal so groß gemacht, als es war; hingegen Lysanias mein Vater machte es noch kleiner als das jetzige ist; ich aber bin es zufrieden, wenn ich es diesen da nicht kleiner hinterlasse, sondern um irgend ein Weniges größer, als ich es überkommen.

Input: Die Göttliche Komödie – Kur nach Krise in der Lebensmitte

Beim Anhören von Dantes (1265-1321) Göttlicher Komödie (online) wurde mir gewahr, was er als Autor als Anlass für das Buch nahm: Das Abirren vom rechten Weg in der Lebensmitte. Das beschreibt er gleich zum Beginn (1. Gesang):

Als ich auf halbem Weg stand unsers Lebens,
Fand ich mich einst in einem dunklen Walde,
Weil ich vom rechten Weg verirrt mich hatte;
Gar hart zu sagen ist’s, wie er gewesen,
Der wilde Wald, so rauh und dicht verwachsen,
Daß beim Gedanken sich die Furcht erneuet;
So herb, daß herber kaum der Tod mir schiene:
Doch eh’ vom Heil, das drin mir ward, ich handle,
Meld’ ich erst andres, was ich dort gewahrte.
Wie ich hineinkam, weiß ich nicht zu sagen,
So schlafbefangen war ich zu der Stunde,
Als von dem rechten Weg ich abgewichen.

Als ihn Vergil auf dem Weg in die Hölle führen wollte, äusserte er Vorbehalte (2. Gesang):

Betrachte meine Kraft erst, ob sie stark ist,
Eh’ du dem schweren Pfad mich anvertrauest.
… Ich bin Äneas nicht, ich bin nicht Paulus;
Nicht ich noch andre glauben des mich würdig:
Drum wenn ich dennoch hinzugehen wagte,
So, fürcht’ ich, wäre töricht meine Reise.
… (Vergil) »So wird von Feigheit deine Seel’ erschüttert,
Die oft des Menschen also sich bemächtigt,
Daß sie von ehrenvollem Zweck ihn abbringt…

Predigt: Das Wesentliche ist geschehen, die Fülle steht noch aus

Während einer längeren Wegstrecke hörte ich mir eine Predigt von Dick Lucas zu Römer 8 an.

Ich wurde dadurch an wichtige Grundlagen des christlichen Lebens erinnert.

  • Unsere Zeit neigt dazu, das Christsein existenzialistisch zu deuten. Alles Verheissene (“die Fülle”) wird sozusagen in die Gegenwart verpackt.
  • Wir leben in einer Spannung. Zunächst einmal werden wir auf Schritt und Tritt an unser altes Selbst vor der Wiedergeburt erinnert. 
  • Durch die Kraft des Heiligen Geistes haben wir jedoch die Kraft nicht mehr sündigen zu müssen. 
  • Dieser Geist ist der Geist Christi. Es ist gefährlich die Erlösung in Christus und das Leben im Geist voneinander zu trennen und als zwei “Entwicklungsstufen” zu sehen.
  • Die Erlösung befreit uns zu einem Leben in der Heiligung. Dieses Leben spielt sich nicht in der modernistischen Deutung “Freiheit als Freipass” ab, sondern in der Freude, in seinen Ordnungen (Gesetz) zu leben.
  • Nicht nur die Schöpfung seufzt, auch wir seufzen, weil wir die Fülle erwarten. Das Wesentliche ist schon verändert; die Fülle steht noch aus. 
  • Dies macht die Hoffnung als Christen aus: Weil die Erlösung unseres Leibes noch aussteht, müssen wir nicht alles vom Jetzt erwarten.
  • Dies führt gerade nicht zu einer (ungesunden) Weltflucht, sondern zur echten Hingabe in der Gegenwart.

Der von Lucas erwähnte Kommentar von Leon Morris lädt zur Vertiefung ein; ich empfehle zudem die Kommentare von Thomas Schreiner und Douglas Moo.

Podcast: Unsere Generation ist die Krönung und der Standard?

N. Gray Sutanto (in diesem hörenswerten Podcast, Minute 38ff):

Ich habe “Generations” von Jean Twenge gelesen … Als ich zum Beispiel das Kapitel über die Generation Z las, die Generation nach mir, dachte ich: “Oh, du meine Güte, unsere nächste Generation! Wir sind dem Untergang geweiht.” Im nächsten Moment: “Halt. So haben unsere früheren Generationen über die Millennials gesprochen, damit auch über mich.”
Das ist also die Versuchung jeder Generation, in der man sich selbst als die Krönung und den goldenen Standard sieht. Jede Generation muss so sein wie man selbst, sonst ist sie dem Untergang geweiht oder so ähnlich.
Der Widerstand bzw. das Argument, den das Christentum dieser Versuchung entgegensetzt, lautet: Um Christus zu folgen, muss man weder Millennial noch Boomer und auch nicht eine Person der stillen Generation oder was auch immer sonst sein. Man muss einfach ein Christ in seinem eigenen Selbst sein, ein Christ in seinem eigenen Alter, an seinem eigenen Ort, in seinem eigenen Kontext.

Etwas vorher (Minuten 28ff) kommentierte er zum Konservatismus als einer ständig lauernden Gefahr für Christen:

Ich würde Konservatismus als den Wunsch beschreiben, nicht nur die ältere Theologie zu vertreten oder zu übernehmen, sondern mit ihnen auch die älteren dienstlichen Ausdrucksformen für jedes Detail dieser älteren Theologie. Man möchte also die gleiche Art zu sprechen, sich zu kleiden, jeden Aspekt der Liturgie auf die gleiche Art und Weise zu gestalten, nicht nur den Inhalt der Theologie und der Liturgie. So wird der Unterschied zwischen der materiellen Theologie und der Form oder dem Ausdruck aufgelöst.

(Dies entspricht Timothy) Kellers Modell der theologischen Vision (siehe hier für eine Definition; hier für die Umsetzung für das Beispiel von TGC) gegenüber dem dienstlichen Ausdruck (ministry expression) ist. Die theologische Grundlage muss dieselbe sein, aber man braucht eine theologische Vision, die das ältere theologische Modell, die ältere theologische Grundlage, auf den Ausdruck des Dienstes, den man hat, in der Gegenwart anwenden kann.

Zitat der Woche: Eine Denk- und Beobachtungsmaschine

Sherlock Holmes in der Beschreibung seines Freundes Dr. Watson im Intro zu “Ein Skandal in Böhmen” (online; 1891 als erster in 12 Abenteuern des Sherlock Holmes publiziert).

Alle Gefühle, und dieses ganz besonders, waren seinem kalten, genauen, aber wundervoll ausgewogenen Geist zuwider. Für mich war er die vollkommenste Denk-und Beobachtungsmaschine, die die Welt je gesehen hat; als Liebhaber hätte er sich jedoch in eine falsche Position begeben. Über die sanfteren Leidenschaften sprach er niemals anders denn mit einer höhnischen oder spöttischen Bemerkung. Als Beobachter kamen ihm diese Regungen prächtig zupaß – sie eigneten sich vorzüglich dazu, den Schleier über den Beweggründen und Handlungen der Menschen zu lüften. Dem geübten Denker hingegen wäre das Zulassen solcher Einflüsse in sein kompliziertes und feinstens austariertes Seelenleben gleichbedeutend gewesen mit der Einführung eines Ablenkungsfaktors, der all seine geistigen Erträge zweifelhaft machen mußte. Sand in einem empfindlichen Instrument oder ein Sprung in einem seiner starken Vergrößerungsgläser könnten für eine Natur wie die seine nicht störender sein als eine starke Gefühlsregung.

Mehr zu Sherlock Holmes in “Sherlock Holmes Handbook” und “Die Welt des Sherlock Holmes”. Online Great Books hat die Erzählung besprochen und dabei die starke Betonung der Rationalität und Vorhersehbarkeit bei Holmes diskutiert.

Medien: Beginnende Dekonstruktion der Digitalisierungs-Mythen

Zu früh, zu viel, zu unkontrolliert: Kinder können scrollen, bevor sie ganze Sätze reden, sitzen in der Schule am Tablet und surfen in der Pubertät unkontrolliert im Netz. Jetzt treten die ersten Länder auf die Bremse. Wie viel Computer verträgt die Kindheit?

Das ist eine wegweisende Frage für die Bildung der nächsten Generationen, gestellt von der NZZ am Sonntag vom 4.2.24. Einige Ausschnitte aus dem Artikel mit eigenen Untertiteln:

Bring your own device-Prinzip an Schulen: Die meisten Mittelschüler sind verpflichtet, eigene Geräte anzuschaffen und in den Unterricht mitzubringen. Im Grundsatz hinterfragen das nur wenige. Zu offensichtlich scheint, dass man die Jugendlichen fit machen möchte für die digitale Arbeitswelt. Doch ebenso klar ist: Die Geräte bergen grosses Potenzial für Ablenkung.

Lernkiller Ablenkung: «Ablenkung war schon immer ein grosses Thema an den Schulen, aber mit den Geräten entsteht ein enormer Sog», sagt André Dinter. Er ist der Gründer der Fachgruppe und Chemielehrer. Auf den Laptops seiner Schüler kommen während des Unterrichts ungefiltert E-Mails und Whatsapp-Nachrichten rein. Ein Schüler habe Dinter kürzlich gesagt: «Wenn der Unterricht grad nicht super spannend ist, switche ich zu einem Spiel.»

Unverminderte Digital-Fantasien: Wie damit umgehen? Ein Verbot oder Abbau von digitalen Geräten ist für Chemielehrer Dinter keine Lösung. «Die Digitalisierung des Unterrichts bringt grosse Chancen für neue interaktive Formen des Lernens.» Dafür müsse sich der Unterricht aber verändern. «Im klassischen Frontalunterricht, bei dem der Lehrer an der Wandtafel steht, ist es für Schüler einfach, sich hinter dem Laptop zu verschanzen.»

Viel Bildschirmzeit für Bildungsferne: Während die Politik noch mit der Regulierung ringt, werden immer mehr gut gebildete Eltern selbst aktiv. Im Silicon Valley schicken vermögende Familien ihre Kinder heute lieber in altmodisch anmutende Kindergärten mit Holzbauklötzen statt Bildschirmen.

Vom Trend zum Anti-Trend: Die Bedeutung des Handy als Statussymbol hat sich ins Gegenteil verkehrt: Ging es früher darum, wer das neuste Gerät hat, geht es heute darum, wer darauf verzichten kann.

Kürzlich gebloggt

Input: Emotionen im Stoizismus und im Christentum

Augustinus ist mir ein Vorbild im Bemühen, zeitgenössische Konzepte ernsthaft und differenziert zu bewerten. Sarah Byers weist im Aufsatz The psychology of compassion: Stoicism in City of God 9.5 auf Augustins wohl bedachte Analyse hin (in: In James Wetzel (ed.), Augustine’s City of God: A Critical Guide. Cambridge University Press, 130-148):

Augustinus’ Verweise auf pathos und eupatheia in De Civitate Dei zeigen, dass er mit dieser Unterteilung der Emotionen nach ihrer Verursachung vertraut ist. Darüber hinaus macht er deutlich, dass der Zweck seiner Erwähnung in Civitate Dei 14.8 darin besteht zu zeigen, dass die Schrift, obwohl sie eine andere Terminologie verwendet, eine begriffliche Unterscheidung zwischen Emotionen, die moralisch gut sind, weil sie mit der rechten Vernunft übereinstimmen, und solchen, die dies nicht sind, respektiert. Die Werke der säkularen Literatur, die ebenfalls eine begriffliche Unterscheidung implizieren, ohne der ciceronisch-stoischen Terminologie zu folgen, werden herangezogen, um dem umgangssprachlichen Sprachgebrauch der Heiligen Schrift Geltung zu verschaffen.

… Zweitens wird bei näherer Betrachtung der Passage über das Mitleid in Civitate Dei 9.5 deutlich, dass Augustinus keine Dichotomie zwischen Altruismus und Eigennutz vorstellt, wenn er das Mitleid und die Sorge um einen anderen Menschen empfiehlt anstatt sich um das eigene Leben zu sorgen. Er spricht von Mitgefühl, um zu “befreien”, und von Furcht, damit niemand “umkommt”. Aber eine parallele Stelle in Stadt Gottes 14.9 spricht auch von “Befreiung” und “Verderben”, und die Worte haben einen moralischen Sinn: Befreiung vom Laster, Verderben durch Sünde.

Siehe auch “Augustinus und die menschliche Natur” sowie “Im Leben der Gerechten haben die Gemütserregungen eine Stelle, aber sie sind auf das rechte Ziel gerichtet”

Zitat der Woche: Ich weiss, was mir eine Sache wert ist

Einfach eine tolle Szene. Ich wünsche mir mehr von diesem Schneid – nicht weil ich genügend Geld in der Tasche habe oder mir sonst etwas auf mich einbilde. Sondern weil ich weiss, wem ich wirklich diene.

Meisterdetektiv Poirot wird von einem Zugpassagier um persönlichen Begleitschutz gegen eine hübsche Summe Geld angefragt – und lehnt ab (in Agatha Christie, Mord im Orientexpress):

«Mein Leben wurde bedroht, Mr. Poirot. Nun gehöre ich ja eigentlich zu denen, die ganz gut auf sich selbst aufpassen können.» Er nahm eine kleine Pistole aus der Jackentasche und ließ sie Poirot eine Sekunde lang sehen. Dann fuhr er mit grimmiger Miene fort: «Ich glaube, einen wie mich überrumpelt man nicht so leicht. Aber bei näherem Hinsehen würde ich mich doch gern doppelt versichern. Ich denke, Sie wären der richtige Mann für mein Geld, Mr. Poirot. Und nicht vergessen – viel Geld.»
    Poirot betrachtete ihn eine Weile nachdenklich. Seine Miene war völlig ausdruckslos. Der andere hätte im Leben nicht erraten können, was in seinem Kopf vorging.
    «Bedaure, Monsieur», sagte er schließlich. «Ich kann Ihnen nicht dienen.»
    Der andere sah ihn listig an.
    «Dann nennen Sie mir Ihre Summe», sagte er.
    Poirot schüttelte den Kopf.
    «Sie verstehen mich falsch, Monsieur. Ich war in meinem Beruf sehr erfolgreich. Ich habe genug Geld verdient, um sowohl meine Bedürfnisse als auch meine Launen zu befriedigen. Ich übernehme nur noch Fälle, die – mich interessieren.»
    «Sie sind ein harter Brocken», sagte Ratchett. «Könnten zwanzigtausend Dollar Sie interessieren?»
    «Nein.»
    «Wenn Sie den Preis hochtreiben wollen – mehr bekommen Sie nicht. Ich weiß, was mir eine Sache wert ist.»
    «Ich auch – Monsieur Ratchett.»
    «Was gefällt Ihnen an meinem Angebot nicht?»
    Poirot erhob sich.
    «Wenn Sie mir die Freimütigkeit verzeihen, Monsieur Ratchett – mir gefällt Ihr Gesicht nicht», antwortete er.
    Und damit verließ er den Speisewagen.

Zum Hörbuch geht es hier.